Latein ist schon eine Sprache der Menschen, allerdings derer, die schon lange nicht mehr leben. Es spricht auf den ersten Blick einiges gegen Latein: es ist eine tote Sprache, sie ist nicht ganz leicht zu erlernen (sehr viel Pauken von Formen) und scheint nur für Theologen, Ärzte und Juristen notwendig und brauchbar. Auf den zweiten Blick hat Latein aber auch viele Vorzüge: Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Rumänisch sind alles spätlateinische Dialekte, also Abkömmlinge des Lateinischen. Wer Latein beherrscht, dem fällt das Erlernen der genannten Sprachen wesentlich leichter, nicht nur wegen der Vokabeln, viele grammatikalische Strukturen sind auch in den Abkömmlingen erhalten geblieben. Das geht soweit, dass ich, obwohl ich nie Rumänisch (die Sprache, die dem lateinischen am stärksten verwandt ist) gelernt habe, den Sinn eines rumänischen Zeitungsartikels verstehen kann.
Was uns vom klassischen Latein überliefert ist, ist (meistens) in einer ausgefeilten Kunstprosa geschrieben. Das heißt, um diese Texte übersetzen zu können, reicht es nicht, so ungefähr den Sinn zu verstehen. Ich muss die meisten Sätze grammatikalisch analysieren, ich muss Endungen zur Deckung bringen, um Subjekt, Prädikat, Objekt et cetera „ herausfiltern“ zu können. Dadurch wird man sich einerseits auch der Muttersprache sehr bewusst, es ist leichter, seinen eigenen Stil (schriftlich und mündlich) bewusst zu verbessern. Andererseits ist Latein für jemanden, der Sprachen lernt, wie die Anatomie, das Skelett, für den werdenden Mediziner. Der Knochenbau ist bei allen Menschen fast gleich. Nicht ganz so, aber ähnlich, verhält es sich bei Sprachen. In jeder Sprache gibt es .B. Hauptwörter und Zeitwörter, die sich in allen Sprachen auch ähnlich zueinander verhalten. Wer Latein beherrscht, hat somit den Grundriss, der sich auf fast alle Sprachen mehr oder weniger verwenden läßt.
Wenn man Latein kann (zusätzlich mit Griechisch noch besser), kennt man automatisch auch fast alle „ klassischen“ Fremdwörter wie zum Beispiel involvieren, derogativ oder Invektive. Interessant ist auch zu beobachten, dass sich die Industrie beziehungsweise die Werbung sich oft des Lateinischen bedient. Lateinisch klingende Marken oder Produkte haben einen leicht wissenschaftlichen Anstrich, der die Leute überzeugen oder manchmal auch nur einlullen will. Beispiel: es gibt einen Autoreifenhersteller namens Semperit. Klingt gut, nicht wahr? In Wirklichkeit ist dieser Name eine groteske Übertreibung, er bedeutet nämlich: läuft immer. In Wahrheit hält der Reifen etwa genauso lange oder nicht lange wie die Konkurrenz.
Das sind so die Argumente, die mir spontan einfallen, es gibt aber sicherlich noch eine Menge anderer Punkte, die für oder gegen Latein sprechen.
Natürlich kann man auch ohne Latein glücklich werden, es fehlt einem im praktischen Leben sicher auch nicht. Wenn es allerdings jungen Menschen zum Beispiel an Schule oder Universität angeboten wird, ist es eine Überlegung wert. Wer einmal in die sprachliche Richtung gehen will, auch als Journalist oder Germanist, tut sicherlich gut daran, zumindest einen Grundkurs in Latein zu besuchen. Das gleiche gilt auch für diejenigen, die später einmal romanische Sprachen, und sei es nur für den Hausgebrauch, lernen wollen.
Eines habe ich noch vergessen: durch die sehr wichtige präzise Satzanalyse, die im lateinischen unabdingbar ist, soll auch das logische Denken stark gefördert werden, sagt man.