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Das wertvollste im Leben
Es war schon eine Weile her, seit Robert den alten Mann
zuletzt getroffen hatte. Das Studium, Frauen, die
Karriere - Robert war aus seinem Heimatort weggezogen
und lebte heute am anderen Ende der Republik. Robert
hatte wenig Zeit, um über Vergangenes nachzusinnen,
manchmal fehlte ihm sogar die Zeit für seine Frau und
seinen eigenen Sohn. Er arbeitete an seiner Zukunft und
nichts konnte ihn davon abbri
ngen.
Eines Tages erhielt er einen Anruf seiner Mutter. Sie
erzählte ihm, dass Herr Roosen am Abend zuvor gestorben
war, und dass die Beisetzung am darauf folgenden
Mittwoch stattfinden sollte. Erinnerungen tauchten auf
und Robert saß still da, und erinnerte sich an seine
Kindheit. "Hast du gehört, was ich dir gesagt
habe?" fragte seine Mutter.
"Aber ja, sicher", antwortete Robert,
"ich habe lange nicht mehr an ihn gedacht - um
ehrlich zu sein: ich dachte, er sei schon seit einigen
Jahren tot."
"Nun, aber er hat dich nicht vergessen. Immer,
wenn ich ihn sah, fragte er nach dir. Er schwärmte von
den vielen Stunden, die du damals bei ihm drüben
verbracht hast, 'auf seiner Seite des Zauns',
wie er es nannte", fuhr seine Mutter fort.
"Das alte Haus, in dem er lebte, war einfach
genial", sagte Robert. "Weißt du, als dein
Vater starb, kam Herr Roosen vorbei und meinte, es sei
sehr wichtig, dass es auch einen männlichen Einfluss in
deinem Leben geben sollte," sagte Roberts Mutter.
"Ja, er hat mir viel beigebracht. Ohne ihn hätte
ich meinen heutigen Beruf nie erlernt. Er hat sehr viel
Zeit damit zugebracht, mir alles zu vermitteln, was er
für wichtig hielt. Ich werde zur Beerdigung
kommen."
Obwohl er sehr unter Termindruck stand, hielt Robert
sein Versprechen. Er nahm den nächsten Flug in seine
Heimatstadt. Die Beisetzung des Herrn Roosen war sehr
schlicht. Er hatte keine eigenen Kinder und die meisten
seiner Verwandten waren längst verstorben.
Am Abend vor seinem Rückflug besuchte Robert mit seiner
Mutter noch einmal das alte Haus, in dem Herr Roosen
all die Jahre gelebt hatte. Er blieb auf der
Türschwelle stehen. Es war wie eine Zeitreise, als
öffnete sich eine andere Dimension. Das Haus war genau
so, wie Robert es in Erinnerung hatte. Jeder Schritt,
den er darin machte, weckte längst vergessene
Erinnerungen. Jedes Bild, jedes Möbelstück erzählte
Geschichten. Robert hielt abrupt inne.
"Was ist los?" fragte seine Mutter.
"Die kleine Schatulle ist weg!" antwortete
Robert.
"Welche Schatulle?"
"Es gab eine kleine goldene Schatulle, die er
immer verschlossen hielt - sie stand immer hier auf dem
Schreibtisch. Ich habe ihn bestimmt tausend Mal
gefragt, was drin ist. Aber er sagte nur immer: das,
was mir am wertvollsten ist."
Die Schatulle war fort. Alles andere im Haus war genau
so, wie Robert es in Erinnerung hatte. Alles bis auf
die Schatulle. Robert vermutete, dass ein
Familienangehöriger diese Schatulle mitgenommen haben
musste.
Traurig sagte er: "Nun werde ich niemals erfahren,
was für ihn am wertvollsten war." Robert war müde,
also kehrte er mit seiner Mutter zurück nach Hause und
flog am nächsten Tag zurück in seine Wahlheimat.
Etwa zwei Wochen nach Herrn Roosens Tod fand Robert
einen Benachrichtigungsschein in seinem Briefkasten.
Der Postbote hatte ihn nicht angetroffen und das
Päckchen wieder mitgenommen. Als Robert ganz früh am
nächsten Morgen zum Postamt fuhr, überreichte ihm der
Schalterbeamte ein Päckchen, das so aussah, als sei es
hundert Jahre unterwegs gewesen. Die Handschrift des
Absenders war kaum zu entziffern, doch schließlich
erkannte Robert die Absenderanschrift: Wilfried
Roosen.
Robert setzte sich ins Auto und atmete tief durch,
bevor er das Päckchen öffnete. Zum Vorschein kamen die
goldene Schatulle und ein Briefkuvert. Roberts Hände
zitterten, als er die Notiz las: "Bitte übergeben
Sie nach meinem Tod diese Schatulle mit Inhalt an
Robert Sichter. Sie enthält das, was mir in meinem
Leben am wichtigsten war." Ein kleiner goldener
Schlüssel klebte auf dem Brief.
Robert standen die Tränen in den Augen und sein Herz
raste, als er den Schlüssel nahm, und die Schatulle
öffnete. Sie enthielt eine wunderschöne goldene
Taschenuhr. Roberts Finger glitten über das wunderbar
gearbeitete Gehäuse. Der Uhrdeckel sprang auf. Darin
standen die eingravierten Worte:
"Robert, vielen Dank für deine Zeit! - Harald
Roosen"
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