Quer durch das Anaga-Gebirge, hinein in das Leben eines Eremiten; weit abseits der Zivilisation!
Keine Angst, ein Dschungelcamp wird es nicht sein, worauf ich mich da eingelassen habe. Und menschenwürdig bleibt es auch!
Obgeich in dem Camp ja hinter fast jedem Baum eine ganze Mobil-Klinik lauert, ohne die sie niemals überleben würden! Jedenfalls diese Promis nicht!
Objektiv betrachtet scheint mir diese ganze Gesellschaft und die Fragestellung ihrer Initiatoren, ganz offensichtlich von so großer Dekadenz und pathologischer Natur zu sein, dass sie nicht einmal mehr selbst, aus eigenem Antrieb, die Kraft aufbringt den elementarsten aller Triebe, nämlich denjenigen zum Überleben, ohne Hilfe aktivieren und mobilisieren zu können! Der kulturelle und geistige Verfall liegt hier so offenkundig vor und ist nicht mehr zu übersehen! - Und zu retten?! -
Ich folgte nur der Einladung des Eremiten Patre Lois.
Den Schneid, den Ehrgeiz und die Kondition des Patres, von nahe El Tanque bis ganz ans nördliche Ende Teneriffas zu wandern, wie er es tat als er uns besuchte, konnte ich nicht aufbieten. Aber gut eineinhalb Wochen wird`s schon gehen!
Planung und Vorbereitung bis in alle Eventualitäten und Kleinigkeiten, sind schon fast der halbe Marsch, - und lebenswichtig! Jedes unnütze Teil wiegt was, und es kann mit der Zeit immer schwerer werden; aber jedes wichtige Utensil, das fehlt, könnte ein großer Fehler gewesen sein. Ein kräftiger Wanderstecken gehört auf jeden Fall dazu! Er war mein bester Freund, Helfer, und Stütze; ein handgefertigtes Geschenk der Nachbarn aus einem besonders knorrigem Holz. Alles in Allem habe ich mich ca. zwei Wochen mit den Vorbereitungen und Beschaffungen herum geplagt. Ich wollte alleine gehen, obgleich sich einige gute Leute etappenweise mir anschließen wollten. Die feldmarschmäßige Ausrüstung wog alles zusammen ca. 8,5 - 9 Kg. Gerade richtig um sich nicht übermäßig zu plagen. Es muss ja trotzdem mit Allem gerechnet werden! Nun noch die Abmeldung bei der Guardia Civil mit Hinterlegung der Handynummer und des Routenplanes wegen des Ortungssystems, denn ohne dieses bekommt man heute für solche Unternehmen keine Erlaubnis mehr, und dann ging's los!
Startpunkt war drei Wegstunden vor El Peladero in der Nähe von Bajamar, Tegueste und Las Mercedes, das noch mit einem Jeep erreichbar war. Hauptstraßen oder befestigte Landstraßen waren verboten! Es gab auch wenige auf der Route. Das Ziel war kurz vor Lomo de las Bodegas im nördlichen Zipfel unweit von Chamorga. Dort ist die „Inselwelt“ auch schon fast zu Ende.
Bis zum Ausgangspunkt wurde ich gefahren; dann gingen wir nochmals die Route durch, insbesondere die Querung des Barrancos de Taborno, und prüften unsere Handys, den Notnagel, für den Fall: "Nichts geht mehr"! Auch war es dort meine vorletzte Nacht in einem Bett unter einem festen Dach. Dort in der Herberge traf ich Johann, den Wanderführer. Er kam vor vielen Jahren aus Bayern, wo er Sommers auch Bergführer war und im Winter Skilehrer. Er ist ein guter und strenger Führer, und steht in den Diensten einer Reisegesellschaft. Wir gingen am nächsten Tag ein Stück zusammen, bis er in Las Carboneras eine Gruppe übernahm. Ganz früh morgens, als noch die anderen mit dem Aufstehen kämpften, ging es los in eben die besagte Richtung Carboneras mit den vielen Holzkohlenmeilern "vor der Tür"!. Es war alles noch sehr feucht und die Wolken zogen hoch zum Grat. Dann geht es sich am besten, wenn man auf die feuchten und glatten Felsen acht gibt. Es ging gut voran, - na ja, war es doch erst der erste Tag! Das wird sich noch gewaltig ändern.
Man muss einen „Schritt“ haben, der dem Herzschlag und der Atmung harmonisch entspricht. Die meisten Leute schwatzen viel zu viel! -Sie schwatzen sich ihre eigene Kondition kaputt. Normalerweise pendelt sich dieser Rhythmus ganz automatisch ein, auf glatter Strecke! Hier war es etwas anders; gleichmäßiges Gehen war nicht möglich. Zwischendurch wurde immer wieder mal angehalten und ein „Mineralschnaps“ genommen. Der Elektolythaushalt ist sehr empfindlich und für ein schlappes Gefühl verantwortlich - man mag einfach nicht mehr weiter! Hinter Las Caboneras, irgendwo im Wald, schlug ich mein Lager auf, noch vor dem Barranco de Taborno, das ich morgen überqueren wollte. Das wird eine Heidenarbeit werden! Ein Barranco entlang seines Verlaufes zu gehen, ist längst nicht so besonders schlimm und schwer, wie das Risiko und die Anstrengung es zu überqueren! Das ist wie mit einem amerikanischen Canon. Heute ist der Auf- oder Abstieg noch da, morgen vielleicht schon nicht mehr begehbar! Morgen war die Strecke über Taborno bis Casas de Afur angesagt. Immer schön an den Ortschaften vorbei! Ich schlief sehr gut, obgleich es nachts sehr feucht und kühl war, bis mich der „Hahn“ wecke! - Ach nein, es war ja weit und breit keiner da. Also Sachen zusammenpacken und das Barranco in Angriff nehmen, worauf ich psychisch und physisch schon vorbereitet war! Der Wald war sehr dicht und überall moos- und algenbehangen, und wieder der gleiche dicke Nebel. Ständig fielen große Wassertropfen von den Bäumen. Jetzt beweist sich der Ausdruck 'Wolkenmelker' der Kiefern an den Teideflanken! Im Nu ist man nass, und die Kleidung vollgesogen. Wenn dann die Sonne kommt, ist alles unter den Bäumen eine fast undurchsichtige Dampf- und Nebelsuppe. Deswegen sollte man nie zu dieser Zeit ohne Regenschutz durch unbekannte Wälder marschieren!
So kann ich die Schlucht nicht queren, dazu muss die Sicht gut sein! Ich war schneller als ich gedacht hatte, und nun musste eine Zwangspause eingelegt werden. Als sich der Nebel löste, konnte ich nach einem Abstieg Ausschau halten. Es war eine glückliche Stelle dort, und der Abstieg ging wider Erwarten gut. Nun der Aufstieg auf der anderen Seite. Wo suchen? Zum Meer hin werden die Wände zwar immer flacher, aber das bedeutet auch einen großen Umweg. Talaufwärts fand ich was Passendes, aber ohne Seil war das nicht gut zu machen, trotz Bäumen und Sträuchern an den Felswänden, sie waren viel zu steil. Also ging es los mit dem Seil, an dessen einem Ende mein Rucksack befestigt war, den ich jeweils von oben hinter mir her zog. Ein paar Stunden waren schon drauf gegangen, aber später von Gegenüber sah das alles viel besser und leichter aus – geschafft! Nun war erstmal Essen angesagt in der Nähe einer Quelle, denn bislang war mein Magen noch, bis auf ein paar Kekse, leer gewesen. Mit vollem Magen sollte man solche anstrengenden Klettereien auch nicht machen! Da die Quelle hier entsprang, konnte sie noch nicht vom Vorlauf verschmutzt sein; und so braute ich mir meinen Mineralcocktail aus Brausetabletten oder Pulvertütchen, die es in jeder Apotheke gibt, mit dem frischen Quellwasser und unterzog mich einer Reinigungsprozedur mit diesem sehr kalten Wasser und flüssiger Seife!? -Warum flüssige Seife? Weil sie viel ergiebiger und löslicher ist, besonders bei sehr weichem und kaltem Wasser, als die Stücke! Außerdem ist sie bequem und platzsparend in einer verschließbaren Platikflasche aufzubewahren, und seift nicht den ganzen Rucksackinhalt ein, wie es die nassen Stücke tun.
Um mich herum wurde es lebhaft. In den Lorbeerbäumen tummelten sich ganze Heerscharen von Finken, die alle lautstark bemüht waren den neuen Tag und die Sonne zu begrüßen. Sie freuten sich, so wie ich mich auch! Jetzt fehlten eigentlich, außer mir, nur noch die anderen Affen! - Es war einfach herrlich mit den ganzen Pflanzen und Blumen um mich herum. Und dabei war es schon, oder erst, Mittag, und die Sonne fing an grell zu werden. Dann lieber zusammenpacken bevor die große Hitze einsetzt, und weitergehen, denn sonst können Beine und Gelenke anschwellen. Afur erreichte ich schon sehr früh, und so entschloss ich mich noch weiter bis zur Försterei bei Paso, in 934 Metern Höhe, zu gehen. Dort wollte ich den Grat überqueren und auf der südlichen Seite weitergehen. Denn hier weiter in Richtung Taganana würden mich eine sehr zerklüftete Bergwelt und ein neues Barranco erwarten, das Bco. de la Iglesia. Es war schön in der Försterei, und man fragte mich nach der Registrierung im Kontrollbuch ordentlich aus! - Ein Aleman, ganz hierher gewandert? Niemals im Leben! Mein Ausweis machte mich glaubwürdig. Es war eine Kopie, die in Folie eingescheißt war, die ich in einer Tasche um den Hals trug. So muß es mit allen feuchtigkeitempfindlichen Teilen und Dokumenten sein! Alle anderen Sachen, insbesondere alle Nahtstellen, trotz zusätzlicher Schweißungen und überlappenden Blenden, den Rucksack mit Schlafsack, den Anorak und das Zelt, hatte ich lange vorher sorgfälltig mit Teflon-Spray oder -Fett imprägniert. Sonst fängt alles bald an zu stocken. Das waren nun fürs erste meine letzte warme Mahlzeit und ein richtiges Bett. Die Hälfte war geschafft, und auf der Südseite geht es besser voran, trotz des besonders dichten Waldes. Dort im Forsthaus sah ich erstmalig eine Wildziege mit stark gebogenem Gehörn, so wie eine Gemse es hat. Auch sah ihr Körperbau ganz ähnlich aus, nur kleiner, als wäre sie noch ein Zicklein. Sie sind sehr selten, hervorragend getarnt, sehr scheu und leben in den nackten Felsen nahe der Küste. Diese hier hatte sich ein Gelenk verletzt, mit dem sie nach einer Ruhestellung und Behandlung aber schon wieder ganz munter war, sonst hätte sie draußen auch nicht lange überlebt. Am nächsten Morgen dann: „Adios Amigo, und komm' auf dem Rückweg vorbei, y Vaya con Dios Aleman!“ Wir waren die Route nochmals sorgfältig durchgegangen, und ich war auf dem richtigen Weg zur Eremita. Man wußte aber nur in etwa wo sie genau liegen soll. Das reichte mir aber schon. Schließlich waren die Forstmänner ortskundig und glaubwürdig.
Nirgendwo auf Teneriffa sah ich jemals so viele und ausgedehnte Terrassenplantagen, wie hier in dieser Gegend!
Es ging forsch voran, immer am Hang entlang durch sehr dichte Wälder mit feuchtem und rutschigem Untergrund ohne eine Ortschaft. Da tritt es sich schwer, auch mit starken Profilsohlen ist es noch glatt und schmierig, weil die Blätter auf dem Boden so feucht sind. Nur ein paar kleine Bauernhäuschen und eine Menge ganz kleiner Örtchen waren ganz abseits gelegen, und wahrscheinlich auch solche von den selbsterwählten Einsiedlern, wie dem Orgel- und Pfeifenbauer. Ich kreuzte die Hauptstraße von San Andres nach El Bailadero. Überall an den Straßenrändern sieht man kleine Kapellen, geschmückt mit frischen Blumen. Teils sollen die dort verehrten Heiligen die Autofahrer beschützen, teils sind es auch Gedenkstätten für Verunglückte, die hier zu Tode gekommen sind - und es müssen schon recht viele gewesen sein! Die Straße ist sehr kurvenreich; ich bin sie schon mehrfach in beide Richtungen gefahren!
Noch zwei Übernachtungen mit den Vögeln, dann sollte ich eigentlich angekommen sein! Das letzte Ende war wieder ziemlich mühsam, weil es nicht mehr ganz so viel Wald gab, dafür schroffere Felsformationen und Gluthitze. Also mußte das Tempo verlangsamt werden! Die Hitze und die Sonnenstrahlung sind der Feind Nr.1 eines jeden Wanderers dort; dann unbedingt den "Gang" herunterschalten, denn sonst geht der Kreislauf in die Kniee! Eine ersehnte Dusche würde jetzt nicht erfrischen, sondern alles nur noch verschlimmern und beschleunigen. Das ist der häufigste aller Fehler bei der Heimkehr nach längeren, ob geführten oder nicht, Wanderungen. Schnell unter die Dusche, und "Peng" ist es passiert! "Herr Kreislauf " meldet sich, er will nicht mehr! "Alleinreisenden" braucht man das nicht erklären, die wissen das ohnehin was passiert! Unterwegs fängt es immer an mit schweißnasser aber kühler Stirn (kalter Schweiß), leichte Blässe mit flatterigen Händen und flachem Puls. Erst dann kommt der unsichere Gang mit Krämpfen, Gleichgewichts-, Bewußtseins- und Sprachstörungen, wie Doppelbilder bis hin zur Bewußtlosigkeit (Kollaps). Einziges sofortiges Mittel bei den ersten Anzeichen dagegen, nicht nur für unterwegs, ist: Ganz schnell flach auf den Rücken legen, enge Kleidung, besonders am Hals, öffnen, und die Unterschenkel und Füße möglichst hoch auf den Rucksack, bis alles vorbei ist. Stirn kühlen erfrischt zwar, nützt aber gar nichts! Ein Würfelzucker, Kekse oder Schokolade, alles was Zucker enthält, hilft sofort gegen Unterzuckerung, welches die gleichen Symptome hat, aber beaufsichtigt eingenommen werden sollte, oder noch bei vollem Bewußtsein auf der Seite liegend! Denn der Schluckreflex ist auch betroffen, und dann droht Erstickungsgefahr! Traubenzucker ist das Idealste! Meistens dauert es nicht lange an. Dann langsam und vorsichtig erstmal hinsetzen, nicht gleich wie ein Stehaufmännchen hoch! Denn dann kann es richtig "schwarz" werden, mit spontaner Bewußtlosigkeit. Das Blut muß Zeit haben sich umzuverteilen.
Noch einmal die Straße nach Chamorga überqueren und auf die Nordseite wechseln, und dann noch etwas mehr als drei Stunden und ich war am Ziel! Bis auf ein einziges Mal hatte ich nie den Kompass benutzt! Wozu sind die Sonne, die Karte und eine Uhr da?
Er war da und erwartete mich, der Patre Lois, der Mönch und Eremit! Die Wiedersehensfreude war sehr groß, und erst jetzt legte ich meinen Stecken beiseite und kramte einige Geschenke hervor; wir waren sehr gute Freunde geworden, mein Stecken und ich! Auf dem Rückflug von Teneriffa bekam ich seinetwegen fast noch Probleme bei der Kontrolle, weil alle Welt glaubte er sei ein altes Kulturgut, weil er doch oben am knorrigen Knauf mit Schnitzereien verziert war, und ziemlich abgegriffen aussah! Erst ganz zuletzt, bevor er mir abgenommen werden sollte, wurde auf der halben Länge der eingeschnitzte Wunsch "Vaya con Dios" entdeckt. Das Kreuz, ein Geschenk vom Patre, blieb hingegen unbeanstandet. Und gerade das war wirklich schon sehr alt, und hatte alle unübersehbaren Merkmale eines solchen Gutes! Es stammte aus einem bekannten Monasterio.
Des Patres Haus war eigentlich kein festes Haus in dem Sinne, sondern, bis auf den Keller und den Kamin, ganz aus dicken, runden Holzstämmen und Schindeln gebaut und abgedichtet mit einer Masse, bestehend aus Lehm oder Ton, verknetet mit sehr widerstandsfähigen Pflanzenfasern (Bambus-, Palmwedel- und Sisal-, Hanffasern), wie die Eisengebinde im Beton! Das geht niemals kaputt! Ebenso waren die Lavasteine des Kamins verklebt und verfugt. Ein Keller war einfach in die Lava gehauen und schön gleichbleibend kühl und trocken. Dichter Wald und große Felsen schützten die Lichtung von allen Seiten vor Wind und Wetter. Rings um das Haus fanden sich alle möglichen Sorten von Gemüsen in buntem Gemisch durcheinander, die teilweise dreimal im Jahr geerntet wurden. Daran war wahrlich kein Mangel!
Da waren ein Batterie betriebenes Radio, viele Bücher und eine Quelle vor dem Haus, und das war aller Komfort. Alles andere war selbst aus Holz gezimmert und geschnitzt, selbst Teller, Löffel und Gabeln und Schalen, abgesehen von dem anderen Inventar! Es war wie in einem Märchen!
So zogen wir tagein tagaus durch die Wälder, sammelten Beeren, Kräuter, Blüten, den echten Lavendel und den giftigen Oleander, besondere Pilze und Moose. Machten Brennholz, versorgten die hauseigenen Ziegen, die beiden Hunde, den treuen Esel und kochten unseren Tee und das Hirse-, Hafer-, und Kräuter-Süppchen mit Ziegenmilch. Ein paar eigene Aloe Vera-Pflanzen gab es auch. Es sind ganz besondere Heilpflanzen, die dort auch extra in großen Plantagen und Kulturen auf Feldern angebaut werden, wofür Patre Lois ein begehrter Berater war, denn er kennt sich mit den Schädlingen ebenso gut wie mit den Pflanzen aus. Bei uns ist sie eine beliebte Topfpflanze. Ihre Ähnlichkeit mit der Agave ist rein willkürlich, denn mit der ist sie weder "verwandt noch verschwägert! Alle Varianten sind genießbar; nur für Menschen mit Niereninsuffizienz kann ihr Saft oder Harz (ziemlich bitter) unverträglich sein. Als Wildling zählt sie zu den besonders geschützten Pflanzen, so die Erklärung von Patre Lois!
Es war Juni, und die Tage schon lang.
Manchen Abend saßen wir ganz schweigsam beieinander und sprachen dennoch miteinander! Nur dass der Ton abgeschaltet war!
Das Haus stand immer offen; es existierte auch kein Schloss, nur ein Holzriegel für kalte Tage und Nächte, damit die Tür gegen Kälte geschlossen bleibt. Hin und wieder kamen Ziegenhirte vorbei und brachten Brot oder etwas Nützliches mit. Dann wurde stets Ziegenkäse in Holzbütten bis spät in die Nacht gemacht. Meistens übernachtete sie dann auch dort. Draußen wimmelte es dann von Ziegen. Dem Gemüse konnten sie aber nichts tun, das war gut geschützt.
Ich vermisste nichts, so wie ich auch auf dem Weg hierher nichts vermisst habe. Das ist gewiss nicht jedermanns Sache auf diese Weise stille Einkehr und eine „Inventur“ mit und in sich selbst zu machen! Leute, die auf solchen Touren immerfort plappern müssen, sind mir höchst unsymphatisch und lästig; ich verabscheue das. Ich weiß auch nicht wie lange ich das gekonnt hätte! Jedenfalls tut es gut, sich einmal körperlich zu fordern, ohne gleich an seine individuelle Leistungsgrenze zu gehen!
Nur nie die Reserven unnötig beanspruchen, sie könnten noch gefordert werden, solange man noch nicht auf der Schwelle seines Zieles steht! Das ist eine alte Weisheit!
Nach einer Woche ging es wieder heim mit dem Auto von Lomo de las Bodegas. Wir hatten eine schöne Zeit, der Patre und ich.
Aber ich habe niemanden vermisst oder gebraucht, ganz ebenso wie mich auch keiner vermisst hat!
- Oder doch? Vielleicht ein junges Mädchen? -
Zu Hause fiel mir ein solches mitten auf der Straße, in Tänen aufgelöst und völlig aus der Fassung geraten, um den Hals, als sie mir begegnete und mich gesund und heil sah. Ich kannte sie gar nicht, und erinnerte mich auch nicht ihr schon jemals begegnet zu sein. Auf meine Frage nach der Ursache ihrer Fassungslosigkeit und ihrer Tränen, meinte sie, sie hätte solche Angst gehabt; es geschehe doch so viel und es sei doch alles so gefährlich, wie man im Dorf so erzählt! Das war nun so ganz und gar nicht die Art einer unverheirateten, wohlerzogenen und tugendhaften jungen Spanierin in der Öffentlichkeit; ihr spontanes Verhalten mitten im Ort auf der Straße war ganz sicherlich unmöglich gewesen und muß sie einfach überwältigt und sehr viel Überwindung gekostet haben! - Eigentlich hätte ich nie etwas anderes vorgehabt als so wiederzukehren, wie ich fortgegangen war, erklärte ich ihr! - Aber lieb war es trotzdem von ihr, und ich fand es irgendwie rührend! Und so machte ich auch keinen Hehl daraus sie einfach in den Arm zu nehmen und ihr das sofort und selbst auf der Straße zu sagen. Es hat viel Klatsch und Tratsch gegeben, bis hin zu Beleidigungen und Diffamierungen gegen mich als Deutscher, die gerichtlich sehr wirkungsvoll geahndet wurden, aber es hat uns noch tagelang amüsiert, denn nun begegneten wir uns häufiger, wahrscheinlich nur deshalb weil ich sie vorher nicht wahrnahm. Nun kannte ich sie und vorher nicht. Fortan grüßte ich die Fenster einiger Häuser immer besonders überschwänglich, bei denen ich wußte, dass die alten Klatschweiber hinter den Gardinen saßen. Sie waren ja von draußen zu sehen! Dann sind sie immer blitzschnell verschwunden. Heute lachen wir darüber. Vor 25 Jahren wären die Tuscheleien des "Nachrichtendienstes" vielleicht wohl begründet gewesen - ich geb' es zu! Viel später beim Tanz auf einer Fiesta erfuhr ich, dass sie Medizinstudentin sei und in den Ferien den Eltern half. Eine von drei Töchtern, die das Glück einer gehobeneren Ausbildung gegenüber ihren Schwestern hatte. Meistens ist es innerfamiliär so geregelt, dass nur ein Kind auserwählt ist, etwas anderes zu werden. Das hat viele Gründe, sowohl finanzielle, wie auch historische! Also doch kein "ländliches Kulturgut"! Wie ich es mir eigentlich schon so gedacht hatte.
Ihre Schwestern waren ebenfalls sehr itelligent und aus dem gleichen "Holz" geschnitzt, mit ebensolcher guten Ausbildung. Ganz einfach, unkompliziert, sympathisch und charmant! Wir brachten es sogar fertig oftmals abends gemeinsam zu viert, sogar manchmal zu sechst mit den Eltern, durch den Ort zu bummeln und draußen vor einer Bar an der Plaza zu sitzen. Das Gegaffe war spassig! Sie mußten immer noch einmal wieder vorbeigehen, und krampfhaft bemüht sein, uns zu übersehen! Ein richtiger "Wildwechsel", und alle taten so als existierten wir überhaupt nicht. Gott sei Dank reagierten die Eltern mit außerordentlich großer Aufgeschlossenheit und noch mehr Humor! Der Papa war ein bekannter Architekt in St. Cruz mit Büros in Pt. de la Cruz, also nicht gerade ganz unbegütert!
Ich glaube sie hat wohl doch zu viel Dschungelcamp oder Robinson & Co. gesehen, und glaubte allen Ernstes daran. Aber damals gab es das ja noch nicht in dieser menschenunwürdigen Form.
Bis zu diesem Tag war sie mir ganz fremd, ich ihr offenbar nicht!? Ich habe nie danach gefragt, um sie nicht eventuell in Verlegenheit zu bringen. Heute ist sie die Senorita Doctora in der modernen Kinderklinik von La Laguna - Santa Cruz.
Nun musste ich so viel erzählen, wie es auch gewesen wäre, wenn ich hier die ganzen Wochen normal geplappert hätte. Sie wollten alles auf einmal wissen. Der ganze Ort sprach über diese Reise in die "Wildnis", was sie ja überhaupt nicht war! Es gab dort nur weniger Zivilisation als hier! Es hat Vor- und Nachteile alleine zu gehen. Auf jeden Fall erfordert es eine noch größere Vorsicht, und eine gute Fähigkeit eine Situation oder ein Risiko bestmöglichst einschätzen zu können!
Jedenfalls ist solch ein Unternehmen eine Schlankheitskur mit Erfolgsgarantie!
Zwei Wochen später fuhr ich nochmals nach las Bodegas hinauf, um Säcke und Kartons voller notwendiger Utensilien und Nahrungsmittel dort in einer Bar für Padre Lois zu deponieren. Gewisse Dinge sind sehr wichtig, wie Salz, Zucker und dann die Seifenmittel, Nähgarn, Bleistfte, Papier und all den vielen Kleinkram, und noch ein kleines bisschen Luxus. Es war eine sehr lange Liste! Haferflocken und Milchpulver waren auch ein paar Kilo dabei, das isst er so gerne. Der Ziegenhirte des Ortes, der auch gleichzeitig der "Dorftrottel" war, bot sich an, alle Sachen nach und nach per Esel bei Padre Lois abzuliefern. Das war absolut glaubwürdig, und verlangte nach einer deftigen Belohnung. Wie ich hörte, war alles in ein paar Tagen geliefert.
Es gibt sehr Vieles zu bedenken, bevor man sich auf den Weg macht!
Es dauerte eine Weile, bis das alles innerlich verarbeitet war!
Gruß Dieter