Hi,
dieses Thema beschäftigt mich sehr! Ich bin zwar noch frisch in der "Bildungsbranche" (an einem großen Berufsschulzentrum), aber die Defizite der Jugendlichen in vielen Bereichen erstaunen mich immer wieder. Unser Bildungsangebot: Wir qualifizieren Jugendliche ohne Hauptschulabschluss, im dualen System, in verschiedenen Berufsfachschulen bis hin zur Fachhochschulreife bzw. zum Abitur.
Hier meine etwas ungeordneten Gedanken zu diesem Thema:
- Wir stellen fest, dass Jugendliche trotz gleichwertiger Abschlüsse mit stark unterschiedlichen Wissensständen zu uns kommen. Dieses wird sich hoffentlich mit der Einführung von Bildungsstandards ändern.
- Ich stelle fest, dass viele Jugendliche nicht in der Lage sind Gemüse und Obstsorten zu benennen.
- Ich stelle fest, dass ca. 60-70% der Hauptschüler noch nie ein Buch gelesen haben. Fragt man alternativ nach Kinderbüchern, die sie vielleicht geliebt haben, bekommt auch keine Antwort. "Ich hatte keine Kinderbücher." Oder: "Nein, meine Eltern haben mir nichts vorgelesen."
- In vielen Haushalten scheint es keine Tageszeitung zu geben. Ab und zu wird mal die Bildzeitung gekauft.
- Einfache motorische Fertigkeiten, wie z.B. das Kneten eines Teiges bereiten den Jugendlichen Problemen. Einen Tisch ganz einfach einzudecken, ist vielen nicht bekannt. Von Tischmanieren ganz zu schweigen.
- Gerade im Bereich der Berufsfachschulen ist die Leistungsbereitschaft sehr gering. Ca. ein Drittel der Schüler/Schülerinnen "sitzt" dort rum, da es Kindergeld und evt. BaFög gibt. Unregelmäßiger Schulbesuch ist bei diesen Jugendlichen (bei den nicht leistungsbereiten) normal.
- Was ich heute im Unterricht gemacht habe, ist die Woche drauf "weg"!!! Trotz abwechslungsreicher Lernmethoden!
- Das Wunder!!! Wie viele Jugendliche in der Lage sind die kompliziertesten Handys zu bedienen und den Führerschein zu machen!!!
Ich denke, dass die Ursachen für die schlechte Allgemeinbildung vielschichtig sind. Sie auf Schule und/oder Elternhaus zu reduzieren, ist zu einfach. Die heutige Welt ist voller Informationen (Informationsflut). Gleichzeitig scheint es immer mehr Kinder zu geben, die kaum (oder wenig) menschliche Zuwendung erleben - ganz zu schweigen von Werten und ERZIEHUNG. Dieses wirkt sich stark auf das Lehren und Lernen in den Klassengemeinschaften aus. Immer mehr der eigentlichen Elternaufgaben sollen von den Schulen geleistet werden, was in den heutigen Strukturen nicht funktioniert. Gründe sind u.a. fehlende Ganztagsschulen, fehlende Sozialpädagogen und Psychologen. Die Erlebnisräume vieler Kinder sind stark reduziert - das Spielen oder Erfahren der Natur treten in den Hintergrund. Hier können schon wertvolle Erfahrungen nicht mehr gemacht und zu Wissen oder motorischen Feritgkeiten verknüpft werden. In unserer Umwelt findet eine ständige Reizüberflutung durch z.B. Medien und Lärm statt - sinnliche Erfahrungen treten in den Hintergrund.
Wie erlebe ich meine Kollegen und Kolleginnen? Ich kann natürlich nur für unsere "kleine Welt" (einige tausend Schüler) sprechen. Die meisten Lehrkräfte sind sehr engagiert und versuchen den Unterricht interessant und abwechslungsreich zu gestalten. Die Arbeitszeit (einer Vollzeitkraft mit 24 Unterrichtsstunden) liegt real zwischen 50-70 Stunden in der Woche. Auch in den Ferien muss Praktikumsbetreuung geleistet oder in einigen Berufen Prüfungen abgenommen werden. Fortbildungen müssen (fast) immer in den Ferien, am Wochenende oder Nachmittags gemacht werden. Umfangreiche Klauren des Fachgynamsiums wie z.B. im Fach Deutsch (30 Schüler, die jeweils 15 Seiten geschrieben haben) schafft man nicht "im laufenden Betrieb" zu korrigieren - das geht nur in den Ferien.
Das soll jetzt kein Gejammere sein! Ich gehe gerne zur Arbeit, wie viele von meinen Kollegen auch. Ich möchte nur deutlich machen, dass für viele Lehrer das Maximum der Leistungsfähigkeit erreicht ist.
Abschließend möchte ich sagen, dass wir unser gesamtes Bildungssystem auf die veränderten Lebenssituationen abstimmen müssen: Eltern müssen ihre Erziehungspflichten erfüllen und ggf. dabei unterstützt werden. Kindergärten dürfen nicht länger nur zum Spielen da sein, sondern müssen schon mit der Vermittlung von Kompetenzen beginnen. Das Personal sollte (wie in Finnland) akademisch ausgebildet sein. Ganztagsschulen sollten Standard und nicht die Ausnahme sein. Dort sollte es Mittagessen und ein umfangreiches Angebot an Aktivitäten und Unterstützung geben. Selbstverständlich sollten auch Psychologen und Sozialpädagogen in ausreichender Stundenzahl an den Schulen sein.
Da unser Staat nicht bereit ist so viel Geld wie PISA-Sieger Finnland auzugeben, werden meine oben genannten Vorschläge wohl kaum umgesetzt werden.
Einen schönen Sonntag wünscht hip!!!